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ÖSTERREICHISCHE BÜRGERINITIATIVE
c/o Gerhard Lichtenauer, Ing.   Tel: 0699 12490010   Fax: 07477 490015

Thesenpapier zur österreichischen Bürgerinitiative

"Daheim statt Heim"

Thesen zur Erläuterung und Differenzierung

(PDF herunterladen)

Vorwort

 

Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat im Jahr 2005 die Situation behinderter Menschen in einem Aktionsplan aufgenommen. Die Möglichkeit für behinderte Menschen statt in einem Heim im Gemeinwesen oder der Familie zu leben sowie die Selbstbestimmung und Eigenständigkeit, wurden zum Ziel erklärt.
Auch verknüpft die Kommission die De-Institutionalisierung mit dem Aufbau einer gemeindenahen Gesundheitsversorgung und von entsprechenden Assistenz- und Unterstützungsleistungen. Der Disability-Action-Plan (DAP) der Kommission sieht die konsequente Beachtung und Anwendung der Thesen und Maßnahmen vor, die auch in dieser Erklärung der Bundesinitiative „Daheim statt Heim" besprochen werden.
Ebenso hat die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen alle Vertragsstaaten darauf verpflichtet sich der Selbstbestimmung, Teilnahme und Antidiskriminierung in allen politischen Ebenen zu widmen. Dies sind Menschenrechte, die den Betroffenen bisher vorenthalten wurden. Das will diese Initiative ändern!

1. Grundsätzliches und Forderungen

Dass behinderte und ältere Menschen, wie andere Menschen auch, so lange wie möglich in ihrer eigenen Wohnung und im gewohnten Umfeld leben können, belegt eine Vielzahl von internationalen Beispielen und Entwicklungen. In Schweden wurden die Behindertenheime zielstrebig abgebaut und ambulante Unterstützungen in der Gemeinde aufgebaut. Länder wie beispielsweise Neuseeland, Kanada und die USA beschreiten ähnliche Wege. Es ist nicht einsichtig, dass die Menschen dort hinziehen müssen, wo sie die Hilfe bekommen.
Vielmehr muss die notwendige Hilfe dort geleistet werden, wo die Menschen ihr gewohntes Umfeld haben, sich wohl fühlen und wo sie leben wollen.
Über viele Jahrzehnte haben die gesellschaftlichen und politischen Kräfte in diesem Land eine flächendeckende Versorgung älterer und behinderter Menschen sichergestellt und vorangetrieben. Die öffentliche Fürsorge für diesen Personenkreis im Bereich der Heimunterbringung ist heute in großem Maß verfügbar und lässt niemanden bei Alter oder Behinderung allein. Mit großem Engagement der Mitarbeiter und Familienangehörigen werden ältere und behinderte Menschen unterstützt und betreut. Diese Initiative erkennt ausdrücklich an, dass ältere und behinderte Menschen in den vergangenen Jahrzehnten aus der Isolierung und Verwahrlosung herausgeholt wurden und dass hoch engagierte Menschen den vermeintlich „Schwächsten" zur Seite gestanden haben. Dies war für das industrielle Zeitalter und das 20. Jahrhundert auch richtig und wichtig. Jetzt ist eine neue Zeit angebrochen.
In der europäischen und internationalen Behindertenpolitik hat sich ein Paradigmenwechsel vollzogen. Menschen mit Behinderung werden nicht weiter als „Fürsorgeobjekte“ betrachtet, sondern als selbstbestimmte Menschen mit gleichen Rechten wahrgenommen.
In Österreich fand dieser Paradigmenwechsel ganz wesentlich erstmals Ausdruck im Bundespflegegeldgesetz (1993), das eine bedarfsorientierte Geldleistung für nötige Assistenz­leistungen vorsah, mit dem Zweck, "pflegebedürftigen Personen soweit wie möglich die notwendige Betreuung und Hilfe zu sichern sowie die Möglichkeit zu verbessern, ein selbstbestimmtes, bedürfnisorientiertes Leben zu führen." In der real existierenden Umsetzung dieses Bundesgesetzes wurde diese Intention des Gesetzgebers nach inzwischen 14 Jahren leider mehr als verfehlt.
Ein weiterer wichtiger Meilenstein war das 1997 in die österreichische Bundesverfassung (BV-G Artikel 7) aufgenommene Benachteiligungsverbot als Staatszielbestimmung. Dort heißt es: ”Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Die Republik (Bund, Länder und Gemeinden) bekennt sich dazu, die Gleichbehandlung von behinderten und nichtbehinderten Menschen in allen Bereichen des täglichen Lebens zu gewährleisten.”
Das mit einigen Abstrichen seit 2006 bestehende Bundes- Behindertengleichstellungsgesetz soll Diskriminierungen von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen verhindern oder beseitigen und die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen.
Diese zum Teil erfreulichen Entwicklungen auf gesetzlicher Ebene benötigen jedoch dringend Korrekturen und Weiterentwicklungen um die vielfältig, weiterhin bestehenden Benachteiligungen aufgrund Behinderung wirksam auszuräumen und Gleichberechtigung und Chancengleichheit für Menschen mit Behinderungen auf allen Ebenen zu sichern.
Die Bedeutung der Menschen- und Bürgerrechte für Menschen mit behinderungs- oder altersbedingtem Hilfsbedarf stehen auch international im Mittelpunkt.
In der aktuellen UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung steht in Artikel 19, dass "Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Wohnsitz zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben". Also keine Heime und mehr Unterstützung in der selbst gewählten Wohnform. Konkret ist gefordert: "Zugang zu einer Reihe von häuslichen, institutionellen und anderen gemeindenahen Unterstützungsdiensten haben, einschließlich der persönlichen Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in und der Teilhabe an der Gemeinschaft sowie zur Verhütung von Isolation und Absonderung von der Gemeinschaft notwendig ist".
Das Ziel der Erreichung einer diskriminierungsfreien Gesellschaft, auch im Bereich der Versorgung und Unterstützung von Menschen mit Hilfebedarf, wie dies durch die Verfassung, das Behindertengleichstellungsgesetz und die aktuelle UN-Konvention vorgegeben ist, ist auch am aktuellen Regierungsprogramm der neuen österreichischen Koalitionsregierung in entsprechenden Passagen abzulesen. So wird die Etablierung von bedürfnisgerechter Pflege, Betreuung bzw. Assistenz mit echter Wahlfreiheit der Wohn- und Betreuungsform für jeden, also unabhängig von Art und Schwere der Behinderung oder dem Alter angestrebt, wie dies z.B. auch in der Regierungserklärung vom 16.1.2007 durch Bundeskanzler Dr. Gusenbauer zum Ausdruck kommt:
„Jeder und jede soll sich für die Art von Pflege entscheiden dürfen, die den jeweiligen Bedürfnissen entspricht“
Wie seit Regierungsantritt die innenpolitischen Auseinandersetzungen und Lösungsversuche erkennbar waren, scheint in der Umsetzung ambitionierter Absichten jedoch „guter Rat teuer“.
Der Teilhabegedanke muss aber immer mehr den Fürsorgegedanken ablösen und ist in der Praxis endlich konsequent umgesetzt werden.
Alle Mitarbeiter und Verantwortliche im bestehenden Hilfesystem müssen sich an neuen Vorgaben und Leitlinien orientieren. Es gilt, individuelle, inklusionsfördernde, bedarfsgerechte und    gemeindeorientierte Unterstützungsformen für ältere und behinderte Menschen zu entwickeln.
Die Umsteuerung und Umsetzung wird nicht nur mit Hilfe kreativer Ideen für die Entwicklung von Gemeinwesen - und Gemeinwohlorientierung gelingen, sondern bedarf der Kooperation von Betroffenen, Kosten- und Leistungsträgern, Politik und Verwaltung. Nicht gegen, sondern miteinander können wir Menschen- und Bürgerrechte umsetzen.
Forderungen, die dies ausdrücken sind u.a.:

  1. Alternative, umfassende und bedarfsgerechte ambulante Unterstützungsangebote für behinderte Menschen müssen flächendeckend auf- und ausgebaut werden. Die vermeintliche „Systemsicherheit", die „Heimen" oftmals zugeschrieben wird, mit einem Dach über dem Kopf, Verpflegung, Pflege und Kontakte zu anderen Menschen, muss durch entsprechende alternative Angebote in der Gemeinde gewährleistet werden.
     
  2. Die anstehende Neuordnung der Pflegesicherung, die Regelung der Rund-um-die-Uhr-Betreuung zuhause, Weiterentwicklung der bestehenden Ansätze von „Persönlicher Assistenz“ und anderer Leistungsgesetze dürfen nicht dazu führen, dass der Begriff „ambulant" missbraucht wird um Kosten zu senken. Dieser Initiative geht es nicht darum, ambulante Versorgung, ambulantes Wohnen und Arbeiten zu fördern weil es billiger ist, sondern weil dies das Leben in Teilhabe und Selbstbestimmung unterstützen und ermöglichen kann. Deshalb muss das Gegenüber von ambulant und stationär langfristig aufgehoben werden – es führt zur technokratischen Interpretation alternativer Hilfesysteme. Behinderte und alte Menschen müssen frei wählen können, wo und wie sie leben wollen. Der alleinige Ausbau ambulanter Strukturen birgt die Gefahr, dass nur die kostengünstigsten und nicht individuell-geeignete Hilfen von den Kostenträgern finanziert werden. Denn alle Menschen haben das gleiche Recht, in der Gemeinschaft zu leben und nicht nur diejenigen, deren Versorgung dort bisher gesichert ist. Hier gilt es, neue Wege zu gehen.
     
  3. Die Wahlmöglichkeiten der Betroffenen müssen u.a. durch ein bedarfsdeckendes Pflegegeld und/oder persönliche Assistenzbudgets (Geldleistungen), gestärkt und die Unterstützung für ein Leben in der Gemeinde auch für behinderte und ältere Menschen mit sehr hohem Unterstützungsbedarf gewährleistet sein. Es darf nicht sein, dass Menschen mit leichteren Einschränkungen ein Leben in selbst gewählter Lebensform zugestanden wird, diese auch aus „Heimen" in ambulante Strukturen ausziehen dürfen und diejenigen zurück bleiben, die einen höheren Unterstützungsbedarf haben. Wir müssen vielmehr bei denjenigen, die mehr Hilfen brauchen, anfangen. So lernen wir automatisch, was möglich ist und wie Hilfen ambulant organisiert werden müssen. Die Kommunen und sozialen und kommerziellen Leistungserbringer müssen vernetzt und an dem Umstrukturierungsprozess beteiligt werden.
     
  4. Die Inklusion und Integration behinderter Menschen muss gleich von Anfang an, also im Kindergarten und in der Schule, beginnen. Behinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene dürfen nicht der Chance beraubt werden, gleichwertig mit nicht behinderten Menschen zusammen aufzuwachsen, zu lernen, zu arbeiten und ihre Freizeit zu verbringen.
     
  5. Wenn Aussonderung erst gar nicht praktiziert wird, muss die Integration später auch nicht mehr gepredigt werden und kostspielig umgesetzt werden.
     
  6. Die maximale Gruppengröße für behinderte und ältere Menschen, die in selbst gewählten Wohngemeinschaften leben wollen, darf ähnlich wie in Schweden fünf Personen nicht übersteigen. Ein familiärer Charakter und leicht überschaubare Strukturen der Angebote sind wichtig und eine zentrale Voraussetzung, um sich wohl zu fühlen. Diese Rechte müssen auch behinderte Menschen haben.
     
  7. Die gesetzlichen und verwaltungstechnischen Rahmenbedingungen auf europäischer, bundes-, landes- und kommunaler Ebene müssen gezielt so umgestaltet werden, dass behinderte und ältere Menschen Daheim statt im Heim leben können. Die nötigen Reformen müssen unterstützt werden.
     
  8. Die Betroffenen müssen an den Reformprozessen nach der Devise „Nichts über uns ohne uns" entscheidend beteiligt werden. Ihre Erfahrungen als „Mutmacher" und Vorbilder, aber auch als Menschen, die ihre Menschenwürde und Bürgerrechte einfordern sind im Prozess der Umstrukturierung der Behindertenarbeit und im Altenbereich entscheidend.
     
  9. Es muss sichergestellt werden, dass keine neuen Heime für behinderte und ältere Menschen gebaut werden. Denn mit dem Bau neuer Heime werden meist Fakten für mehrere Jahrzehnte und institutionelle Strukturen geschaffen, die Ausgrenzung und Abhängigkeit verursachen. Bestehende Heimplätze und Heime müssen gezielt und mit konkreten Zeitplänen abgebaut und durch ambulante Alternativen ersetzt werden. Dieser Prozess muss konsequent vorangetrieben werden.
     
  10. Die Beschäftigten der Einrichtungen brauchen hierfür konkrete Vorgaben und müssen auf dem Weg der Reform mitgenommen und qualifiziert werden. Die Bürgerrechte und der Bedarf von Menschen mit Behinderung und/oder altersbedingtem Hilfebedarf stehen dabei jedoch im Vordergrund.

2. Definition des Begriffs „Heim" und Gestaltung des „Daheim"

Eine Initiative, die grundsätzlich jede Form des Zusammenlebens älterer und behinderter Menschen ablehnt, geht an den Wünschen und der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbei, denen sie eine Hilfe sein möchte. Daher ist es unerlässlich, im Rahmen einer De-Institutionalisierung zu klären, was man möchte und was man nicht erreichen möchte.
Diese Initiative hat sich zur Aufgabe gesetzt, Menschen- und Bürgerrechte älterer und behinderter Menschen generell zum Maßstab staatlichen und gesellschaftlichen Handelns zu machen. Dabei ist primär die besondere Situation dieser Menschen in Wohnheimen zu problematisieren. Es geht uns ganz besonders um den Rückbau von Heimplätzen in Großeinrichtungen und Einrichtungen, die aufgrund Ihrer Konzeption und Ihres Aufbaus nicht gemeindenah arbeiten und die Selbstbestim­mung behinderter und älterer Menschen aus diesen Gründen nicht fördern. Es geht auch weniger um die Beschwörung „ambulanter" Formen und die Verurteilung „stationärer" Formen. Internati­onale Erfahrungen zeigen, dass der Grabenkrieg zwischen ambulant und stationär aufgehoben werden kann. Individuelle und bedarfsorientierte Unterstützungsleistungen für behinderte und ältere Menschen können und müssen unabhängig von diesen Begrifflichkeiten etabliert werden. 
Bei der Umsteuerung im Hilfesystem gibt es gerade dort viel zu lernen, wo schon heute Menschen mit Behinderung und psychisch erkrankte Menschen in kleinen Wohngruppen betreut werden. Im Deutschland, Schleswig-Holstein haben die „Betreuten Wohngruppen" den Status teilstationärer Einrichtungen. Die Unterscheidung „ambulant", „teil-, vollstationär" soll in Zukunft überflüssig sein. Die Betreuten Wohngruppen bieten die Möglichkeit, einer bedarfsgerechten, individuellen Ausgestaltung der Hilfen.
Sowohl solche „Wohngruppen" als auch das „Ambulant Betreute Wohnen" werden neue Aufgaben bekommen. Die individuelle Hilfeleistung ist das eine, sozial räumlich orientierte Leistungen werden das andere sein. Die Einbeziehung der Nachbarschaft und die Initiierung von Bürgerhilfe und von Patenschaften werden zu dem beitragen, was heute mit „Inklusion" gemeint ist.
Ein Baustopp für neue "Heime" ist unabdingbare Notwendigkeit. Niemand will in einem "Heim" leben, wenn ihm ambulante Alternativen zur Verfügung stehen, die seine Hilfebedarfe decken. Selbst gut geführte "Heime" können durch ihre zwangsläufigen strukturellen Grenzen niemals ein Leben mitten in der Gemeinde ersetzen.
Die Produktion von „Kollektivgütern" produziert in hohem Maße „Schutzfaktoren" (WHO, auch zitiert im Grünbuch der EU) für psychisch erkrankte Menschen. Über diese Arbeit lässt sich viel lernen in den „Offenen Hilfen" (Kontaktstellen, Ambulante Zentren, Begegnungsstätten) im Bereich der gemeindenahen psychiatrischen Versorgung. Diese häufig zuwendungsfinanzierten Arbeitsfelder/Sozialräume müssen unbedingt gestärkt werden. Gerade hier entwickeln sich Selbsthilfenetzwerke, Gemeindenähe, Partizipation, entwickelt sich Veranstaltungskultur, Anti-Stigma-Arbeit und Öffnung.
Das „Daheim" und sein soziales Umfeld gilt es zu gestalten. Die Weiter- und Neuentwicklung von Lebensformen behinderter Menschen, psychisch erkrankter Menschen, pflegebedürftiger alter Menschen in der Gemeinde, im Dorf, im Stadtteil bedarf der Anti-Stigma-Arbeit und der Aufklärung. Die Politik wird den Bürgern und Bürgerinnen helfen müssen, die objektiv steigende Hilfebedürftigkeit und auch die „Helfensbedürftigkeit" (Dörner) zu erkennen und entsprechend zu handeln. Womöglich brauchen wir so etwas wie ein „Gesetz zur Förderung der gesellschaftlichen Unterstützung des kommunalen Hilfesystems".

3. Marktsteuerung

Die Marktorientierung und -steuerung, die vom Gesetzgeber gewollt wurde, muss kontrolliert werden. Ein rein marktgesteuertes Hilfesystem kann nur ungleich behandeln. Damit also die "Schwächsten" (schwer mehrfach behinderte Menschen, schwer chronisch psychisch erkrankte Menschen) nicht vernachlässigt werden, müssen Staat/Politik deren Interessen wahren. Der Hilfebedarf dieser Personengruppen ist zu gewährleisten. Es ist fraglich, ob der Kundenbegriff hier hilfreich ist. Der hilfebedürftige Bürger hat Rechte und den Anspruch auf Anerkennung und Solidarität von den Mitbürgerinnen und Mitbürgern.
Ein Wunsch- und Wahlrecht muss für jeden Menschen verwirklicht und beachtet werden – dann wird im Rahmen bedarfsdeckender Geldleistungen (Pflegegeld / Persönliches Assistenzbudget) in die Hand derer, die Hilfe benötigen, eine Souveränität für behinderte Menschen geschaffen, die mehr einem Arbeit- und Auftraggeber entspricht als einem Kunden.

4. differenzierte Hilfen

Bei allen Schritten der Umsetzung ist auf den unterschiedlichen Hilfebedarf der Menschen zu achten. Menschen mit Down-Syndrom benötigen andere Hilfen als Frauen mit Rett-Syndrom und psychisch erkrankte Menschen benötigen andere Hilfen als Menschen mit einer körperlichen Behinderung. Die Gruppe der behinderten und älteren Menschen ist ein extrem inhomogener Personenkreis. Ein Umbau des Unterstützungssystems muss die Balance zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge, zwischen Privatheit und Sicherheit sowie zwischen Autonomie und Vereinsamung halten. Die Vertreter der verschiedenen Selbsthilfeorganisationen und Angehörigengruppen sind deshalb einzubinden.
Im Prozess der Umsteuerung des Hilfesystems, ist zu gewährleisten, dass auch für schwerstbehinderte Menschen mit einem Pflege- und Betreuungsbedarf rund um die Uhr und für schwer chronisch psychisch erkrankte Menschen weiterhin angemessene und menschenwürdige Formen des Lebens und der Betreuung erhalten bleiben, bzw. neu entwickelt werden.
Diese Menschen dürfen weder vernachlässigenden Situationen ausgesetzt sein, noch darf man sie in den Heimen allein lassen. Die „Ambulantisierung" darf nicht zur heimlichen „Selektion" führen. Übergangsprozesse müssen gerade für die „Schwächsten" verantwortlich gestaltet werden.
Es muss gewährleistet sein, dass auch schwerstbehinderte und schwerst mehrfachbehinderte Menschen unter Einbeziehung von bedarfsgerechten Pflegegeld- Leistungen und/oder persönliche Assistenzbudgets, in selbst gewählten Wohn- und Betreuungsformen Leben können.
Wenn dies in Eigenkompetenz nicht (oder nicht mehr) realisierbar ist, ein Netzwerk an familiärer und nachbarschaftlicher Unterstützung fehlt oder dieses dazu nicht in der Lage ist, die nötige Organisationskompetenz für ein Leben in den eigenen vier Wänden zu ersetzen, soll die Selbsthilfe durch bürgerschaftliche Hilfen zuverlässig, dauerhaft menschenwürdig durch Betreuung in kleinen Gruppen und familienähnlichen, wohnortnahen Strukturen ermöglicht werden.

5. langfristige Veränderungen

Die Gestaltung der Veränderung im Hilfesystem muss langfristig angelegt sein. An den Veränderungen des Hilfesystems in Schweden wird seit 30 Jahren erfolgreich gearbeitet. Viel Fortbildungs- und Aufklärungsarbeit wird auch in Österreich notwendig sein, um mit der Neuorientierung in der Praxis beginnen zu können. Von der kommunalen Verwaltung, über Rehabilitations- und Einrichtungsträger bis hin zu den Bürgerinnen und Bürgern sind alle in differenzierter Weise einzubeziehen, damit die Umsteuerung im Hilfesystem, vor allem natürlich im Interesse der hilfebedürftigen Bürgerinnen und Bürger nachhaltig, "verlässlich und verallgemeinerbar" (Dörner) werden kann.

6. Ansätze zur Verbesserung des Hilfesystems

Wie eingangs erwähnt, gab und gibt es in Österreich Ansätze, das Hilfesystem an den Bedürfnissen der hilfebedürftigen Bürger auszurichten (Bundespflegegeldgesetz, Regierungsprogramm).
Lösungsmodelle, die aber fast nichts kosten dürfen, werden keinen Wert haben, sondern die Not der Betroffenen und der Mit-Betroffenen weiter ins unerträgliche steigern.
Notlösungen als Grundlage für Neuregelungen herzunehmen, nur weil sie billig sind, entspricht keiner verantwortungsvollen, nachhaltigen Sozialpolitik.
Erster Schritt muss die Anerkennung von internationalen Entwicklungen zur Sicherung von Bürger- und Menschenrechten für behinderte Menschen sein.
Zweiter notwendiger Schritt in Richtung einer Lösung, der in der aktuell äußerst verfahrenen Situ­ation, muss das Bekenntnis zu einer solidarisch getragenen, bedarfsdeckenden Pflegesicherung sein!
Dritter Schritt ist die Anerkennung und Nachahmung von Lösungen anderer Staaten, die bereits Jahrzehnte Vorsprung haben auf einem Weg, den Österreich früher oder später ohnehin gehen muss.

7. Arbeitsintegration für behinderte Menschen

Eine Stärkung der „ambulanten" Lebensformen behinderter Menschen erfordert zugleich neue Ideen zur Integration behinderter Menschen in das Arbeitsleben, die Stärkung niedrigschwelliger Arbeitsmöglichkeiten, die Weiterentwicklung bestehender Konzepte der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen und die Unterstützung der Entwicklung von „Integrationsbetrieben". „Ambulantisierung", Leben im Gemeinwesen ohne Arbeitsmöglichkeiten können zu so etwas wie ambulanter Hospitalisierung führen. Für die Entwicklung von praktizierbaren, ökonomisch machbaren Arbeitsmöglichkeiten ist vor allem eine Abstimmung mit der maßgeblichen Steuergesetzgebung notwendig.
Zurzeit steigt die Zahl der arbeitslosen Menschen mit Behinderung und der Arbeitsplätze in Werkstätten für behinderte Menschen. Diese Einrichtungen weiterzuentwickeln, muss Ziel einer gemeindeorientierten Politik für behinderte Menschen sein. Es müssen Alternativen und Lösungen wie die „virtuelle Werkstatt" gefunden und umgesetzt werden, um den Zulauf in WfbMs zu bremsen und mehr behinderten Menschen die Chance auf Teilhabe am Arbeitsleben im „ersten Arbeitsmarkt“ zu geben.
Auch die Belange der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen berücksichtigt werden. Der Umbau des Hilfesystems wird nur gelingen, wenn alle Beteiligten in diesen Prozess einbezogen werden. Denn es geht nicht nur um neue institutionelle Strukturen, sondern um ein neues Denken und Handeln in Politik und Praxis für behinderte Menschen.